Der Leiter Waldemar Dück als Bindeglied der Organisation - Eine Reportage
Seine erste Frau starb eineinhalb Jahre nachdem die Familie im Juni 1995 aus Russland ausgewandert war. Plötzlich stand Waldemar Dück alleine mit sieben Kindern da.
„Welche Frau will denn so einen Mann? Da sagen doch alle, so eine ist verrückt", schmunzelt der 63-Jährige. Also rief er damals die jüngere Schwester seiner Frau an und machte ihr den Vorschlag zu heiraten. „Sie lebte damals schon bei uns seit sie 14 Jahre alt war. Ich bin zehn Jahre älter als sie. Sie kannte uns also schon alle und wir kannten sie", erklärt Dück, während er an dem großen Tor für eine der Hallen stehen bleibt. Sein Blick wandert raus, streift die Lkw vor dem Lager, bevor er weiter erzählt.
Louise sagte nicht sofort zu. Stattdessen trafen die beiden sich, um in Ruhe über alles zu sprechen. Das Gesicht des Mannes wird ernst, als er sagt: „Wir haben uns nicht geliebt, aber wir wollten darauf vertrauen, dass Gott die Liebe ist und darauf wollten wir bauen." Erst drei Jahre und zwei Kinder später, konnte das damals noch jungen Paar sich in die Augen sehen und sagen, dass es sich liebt.
Mittlerweile ist Waldemar Dück nicht nur Vater von zwölf Kindern, sondern leitet auch ein weltweit vernetztes Hilfswerk für humanitäre Hilfe. Seit damals ist viel geschehen.
Waldemar Dück nimmt mich für ein paar Tage mit in seinen Arbeitsalltag.
Das christliche Hilfswerk TABEA e.V. hat seinen Standort im Swisttal in der Nähe von Bonn. Unter Waldemar Dücks Leitung werden hier Kleidung, Nahrungsmittel, Spielsachen, Schuhe und weitere alltägliche Dinge zwischengelagert bis sie in Lkw verladen und nach Weißrussland, Moldavien und in die Ukraine gebracht werden. Dort verteilen freiwillige Helfer die verschiedenen Hilfsgüter an Witwen, Waisen, Obdachlose, Invalide, Rentner, Alleinerziehende und kinderreiche Familien.
Die drei von TABEA belieferten Länder leiden jeweils unter sich ähnelnden politischen Konflikten innerhalb des Landes, durch die viele Teile der Bevölkerung in Armut und Krieg leben. Das Hilfswerk trägt in Kooperation mit Kirchengemeinden vor Ort durch die Hilfsgüter dazu bei, die Not der Menschen etwas zu lindern. Die Spenden, die unter anderem in großen Mengen von verschiedenen Firmen stammen, werden an die Gemeinden geliefert und dort meist nach einem Gottesdienst an die Bedürftigen verteilt, die in Scharen und mit sehnsuchtsvollen Gesichtern eintreffen.
Waldemar Dück selbst ist keine besonders auffallende Erscheinung. Mit seinem blonden Schnauzer, seinem gewölbten Bauch und seinem freundlichen Lächeln erinnert er eher an einen lieben Großvater als an den Leiter einer großen Einrichtung.
Doch trotz seiner stets freundlichen und aufgeweckten Art, ist er auch ein Mann fester Prinzipien. Während er Spenden in einen Lkw einsortiert, wobei er die schweren Tüten mit Leichtigkeit in hohem Bogen in den hinteren Teil des Anhängers befördert, erzählt er mit einem Lachen in der tiefen Stimme: „Die Menschen denken nie daran, dass das organisiert werden muss; sie sammeln einfach." Seiner Stimme ist die Herkunft aus Russland stark anzuhören. Auch seine Satzstellung und das gerollte „R" fallen auf, doch das hält ihn nicht davon ab viel und laut mit jedem zu reden, der ihm über den Weg läuft. „Wir haben immer genug Sachen zum Spenden. Es fehlt nur oft an den Transportkosten, weil die Leute nicht daran denken, dass das alles auch weggebracht werden muss."
Sein eigentliches Ziel geht aber über die Hilfstransporte an sich hinaus. Er will „Menschen helfen, dass sie zum Glauben an Gott kommen", wie er sagt. Der Glaube bestimmt das ganze Leben des zwölffachen Vaters. Während er in den zwei langen Lagerhallen Kissen für einige der Flutopfer sucht, die spontan bei TABEA untergekommen sind, meint er zuversichtlich, mit einem Lächeln auf den Lippen und einem leichten Augenzwinkern: „Gott weiß, dass wir die brauchen. Er wird sie uns schon zur richtigen Zeit zeigen."
Seine Aufgaben beschränken sich nicht nur auf die Verwaltung und der Organisation der Waren und des Transportes. Auch das Sortieren der Paletten mit dem Gabelstapler sowie die Begrüßung der freiwilligen Helfer mit einem hausgemachten Frühstück. „Normalerweise macht Louise das Frühstück", erklärt er, während er in einem kurzärmeligen Karo-Hemd den Gabelstapler geschickt in der großen Halle zwischen unzähligen haushohen Türmen von Spenden hindurchmanövriert. Seine Liebe für Louise wird jedem sofort klar, der sieht wie er über sie spricht. Doch seine Frau ist momentan krankgeschrieben. Sie ist gestürzt und liegt nun mit einem demolierten Knie zu Hause im Bett. Dück hat auch ohne die Bewirtung der Gäste mehr als genug zu tun.
Seit Herr Dück 1992, sechzehn Jahre nach dem Beginn der Arbeit, bei TABEA von Nikolaus Klassen aufgenommen wurde, arbeiteten die beiden eng zusammen. Selbst nach Klassens Tod ist Waldemar Dücks Loyalität zu ihm nach wie vor fest. Es kam zu einigen Unstimmigkeiten innerhalb der Kirchengemeinde, die die Arbeit bei TABEA unterstützte. Einige Gemeindemitglieder wollten Dück damals gegen Klassen aufwiegeln. Doch er blieb treu. Während einer kurzen Pause von der Arbeit, genießt er in dem im Barock-Stil gestalteten Aufenthaltsraum eine Tasse Kaffe. Mit der Tasse in der Hand blickt er zurück. Sein Blick wird fest und seine Stimme entschlossen als er den Satz von damals wiederholt: „Ich rühre den Gesalbten Gottes nicht an!" Damit gibt er König Davids Aussage aus der Bibel wieder, die dieser vor dem Beginn seiner Regentschaft über den noch amtierenden König Saul aussprach.
Der jetzige Leiter von TABEA bekam den Posten nicht einfach so. Es war ein langer Weg und ein harter Kampf für ihn. Viele wollten nicht, dass er die Leitung übernahm, weil er Nikolaus Klassen gegenüber auch nach dessen Schlaganfall treu war. Einige dieser Menschen versammelten sich, um zu beraten wie sie ihn los werden könnten. In dieser Zeit ging Waldemar Dück mit seiner Frau Louise spazieren. „Wir konnten nur ein paar Schritte gehen und dann nicht mehr weiter. Es wurde uns richtig schwer", beschreibt er die Situation. Seine Augen spiegeln seinen inneren Kampf von damals wieder. „Wir blieben stehen und beteten und gingen dann weiter. Nach ein paar Schritten konnten wir nicht mehr weiter. Wir blieben wieder stehen und beteten und gingen wieder ein paar Schritte. So ging das immer weiter. Es war ein richtiger Gebetskampf."
Kurz darauf starb Nikolaus Klassen am 11. November 2009 und es blieb eine große Ungewissheit darüber, wie es weiter gehen sollte. Dück bekam mehr und mehr die Gewissheit, so erzählt er, dass er TABEA übernehmen würde. Doch er sprach mit niemanden darüber. An Klassens Beerdigung wurde er gefragt, wie es weiter gehen sollte, worauf er nur darauf verwies, dass Gott das schon wüsste. Danach drehte er sich um und wollte nach Hause. Der Fragende lief ihm jedoch plötzlich hinterher, legte ihm die Hand auf die rechte Schulter und sagte: "Ich bin froh, dass du das übernimmst." Damit war für Dück klar, dass Gott ihn als Leiter wollte.
„Gott hat gerufen und ich bin gegangen, weil Gott gerufen hat", fasst er es kurz und knapp in einem Satz zusammen. „Ich bin überzeugt, dass es ein Werk Gottes ist und darum ist es für mich eine Motivation hier alles zu machen, hier ein Streber zu sein."
Viele Mitarbeiter gibt es bei TABEA nicht. Waldemar Dück, sein Sohn Jakob Dück, die ehrenamtliche Mitarbeiterin Valentina Krauter und immer wieder kommende Gruppen freiwilliger Helfer, von denen nur eine regelmäßig etwa einmal die Woche kommt, erledigen die gesamte Arbeit in dem Hilfswerk. Der Rest der Familie, also seine Frau Louise sowie seine zwölf, nur noch teilweise Zuhause lebenden Kinder, packen natürlich mit an. „Wenn hier jemand arbeitet, dann muss er auch ein Herz dafür haben", gibt der 63-Jährige eifrig den Grund für die wenigen Mitarbeiter an. Außerdem, fügt er lachend hinzu, würden die meisten nicht wieder kommen wollen, nachdem sie einmal hier gearbeitet hätten. „Die Arbeit sie ihnen zu anstrengend.“ Doch diese Tatsache scheint den großväterlichen Mann nicht zu stören. Vergnügt und mit Eifer geht er weiterhin seiner Arbeit nach. Für ihn ist diese Arbeit seine persönliche Lebensaufgabe.
Humanitäre Hilfe ist ein weites Feld. Was genau man sich darunter vorstellen kann, erläutert Thomas Beckmann von der „Diakonie Katastrophenhilfe" in einfachen Worten: „Humanitäre Hilfe rettet Leben und sichert Überleben. Sie hat die Aufgabe Menschen, die sich in Not befinden zu unterstützen. Menschen, die diese Not nicht aus eigener Kraft bewältigen können." Bodo von Borries vom Verband für Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen ergänzt: „Der Kern von humanitärer Hilfe ist das Streben nach Menschlichkeit und Sicherung von Menschenwürde. Die Mindestvoraussetzung ist Erhalt des Lebens und ein Überleben in Würde."
Doch ist die Umsetzung dieser Prinzipien nicht leicht, da humanitäre oft in „komplizierten politischen Kontexten geschieht" und gleichzeitig häufig "sehr plötzlich und unter sehr großem Zeitdruck" passieren muss, so Beckmann.
Auch die von TABEA belieferten Länder Weißrussland, Ukraine und Moldavien sind durch fortlaufende politische Konflikte und teilweise ärmliche Verhältnisse geprägt. Um in solch einem Umfeld agieren zu können, sind laut Beckmann gute „Kontakte zwischen den Hilfsorganisationen und der betroffenen Bevölkerung entscheidend".
Waldemar Dück sieht das ganze lockerer. Er erklärt zuversichtlich: „Kontakte müssen sein; die sind auch. Aber Gott macht solche Sachen, dass man sich wundert. Beziehungen sind gut, aber wenn etwas nötig ist, dann gibt Gott die Beziehung." Damit macht er deutlich, dass er als gläubiger Christ ganz auf die Hilfe Gottes zählt. So bekommt er zum Beispiel von den verschiedensten Personen aus aller Welt zur richtigen Zeit unzählige Hilfsgüter gespendet.
Der damals junge Witwer, der ratlos vor den Trümmern seines Lebens stand, ist einem munteren, lauten und energischen Mann gewichen.
Mit einem Augenzwinkern sagt er über sich selbst: „Ich war immer ein ehrgeiziger Mensch. Dann kam ich in die Mission. Und da wusste ich: hier kann ich so ehrgeizig sein, wie ich will. Egal wie viel man arbeitet, das Gehalt bleibt gleich. Hier kann ich arbeiten und arbeiten. Hier kann man auch nicht seine Ehre suchen, weil viele dafür sorgen, dass man klein bleibt." Mit dem letzten Teil bezieht er sich auf die Beleidigungen und Schmähungen einiger Kritiker seiner Arbeit. Denn nicht alle sind davon überzeugt, dass er mit TABEA gut Arbeit leistet. Anschuldigungen wie die, dass er beispielsweise Alkohol über die Grenze schleusen würde, tut er mit einem dröhnenden Lachen ab. „Ich habe doch nur Desinfektionsmittel geliefert“, stellt er klar.
Trotz solcher Anschuldigungen hört der heiteren Mann nicht auf, TABEA weiter sein Leben zu widmen. Denn TABEA lebt durch ihn. Sein Lachen erfüllt den Hof und die Hallen sowie das Hotel. Immer wieder bleibt er trotz der sich türmenden Arbeit stehen und unterhält sich freundlich mit jedem, dem er begegnet. Hier und da wird ein Spaß ausgetauscht. Niemand kann sich vorstellen wie TABEA ohne Waldemar Dück laufen sollte.
Bild von links: Antje Dircksen und Waldemar Dück
Autor: Antje Dircksen
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